Vorweg: Ja, die Bundestagswahl ist der Grund für diesen Blogbeitrag. Nein, es ist kein weiterer Aufruf, wählen zu gehen. Und nein, ich habe keine Antworten. Ich habe nur Gedanken. Und ich habe Angst.

»Als er erwachte, war der Dinosaurier noch immer da.« So geht eine Geschichte von Augusto Monterroso. Tatsächlich ist das schon die ganze Geschichte. Alles steckt in diesem einzigen Satz. Er fiel mir letztes Jahr ein, als ich am Tag nach den US-Wahlen übernächtigt in die Nachrichten linste und die leise Hoffnung begraben musste, dass das, was sich in der vergangenen Nacht schon abgezeichnet hatte, vielleicht doch nur ein böser Traum gewesen war. Aber der Dinosaurier war noch immer da. Und derzeit erwache ich – und wir alle – jeden Tag mit dem Dinosaurier. Der Dinosaurier ist nicht nur ein Wahlergebnis. Er ist Teil einer Gesellschaft, deren Fronten sich verhärten. Der Dinosaurier sind die Anderen, deren Gedanken uns Angst machen und vor denen wir warnen.

Mit wem wir über die Wahl sprechen

Es ist meine persönliche Überzeugung, dass es absolut wichtig ist, wählen zu gehen. Denn es ist ein Privileg, in einem System zu leben, in dem wir frei über unsere Stimme verfügen können. Es ist ebenfalls meine persönliche Überzeugung, dass die AfD aufgrund ihrer politischen Positionen und der Art, wie sie diese vertritt, unwählbar ist. Und natürlich wünsche ich mir, dass möglichst wenige Menschen ihrer Stimme solchen Parteien geben.

In den sozialen Medien sind meine Kanäle derzeit geflutet mit Aufrufen, unbedingt zur Wahl zu gehen. Sehr oft steht eben auch dabei: »Wählt nicht die AfD.«
Und ab hier wird es schwierig.

Solche Aufrufe werden – in meinen Netzwerken, in meinen Filterblasen – begeistert und hundertfach geteilt. Das ist gut, das gibt mir Hoffnung und macht Mut, weil es mir bestätigt, mit meiner Überzeugung nicht allein zu sein: Bitte wirf deine Stimme nicht weg. Bitte wähle reflektiert und verantwortungsvoll. Ich denke nur eben auch: Wir dürfen uns nicht die Illusion machen, dass diese Aufrufe mehr sind als jene Bekräftigung, nicht allein zu sein. Langfristig brauchen wir mehr als markige Hashtags.

Aufrufe allein ersetzen keine Inhalte

Ich befürchte, dass wir es uns oft zu einfach machen. Der Dinosaurier ist noch immer da, vor und nach dem Erwachen. Wir müssen neue Wege finden, mit ihm umzugehen. Gerade dann, wenn das Ziel sein soll, jene zu erreichen, die für uns die Anderen sind oder im Begriff, dazu zu werden. Wir müssen uns also fragen, wie wir sie erreichen können. Ob es Möglichkeiten gibt, mit- statt übereinander zu sprechen. Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass unser Diskurs vielleicht nicht immer so gut ist wie unsere Absichten. Dass wir manchmal vielleicht nur Türrahmen auf Mauerwerk malen und trotzdem erwarten, dass jemand hindurchkommt.

Die Ironie besteht darin, dass wir am besten diejenigen erreichen, an die wir uns gar nicht vordergründig richten: Jene, die ohnehin zur Wahl gehen und ihre Stimme auch nicht extremistischen Parteien geben. Wer in die andere Richtung tendiert, den bringen wir auf diese Weise auch nicht davon ab. Umgekehrt lassen wir – die wir solche Aufrufe erstellen und teilen – uns ja auch nicht von Stammtischparolen und populistischen Wahlplakaten von irgendetwas überzeugen. (Worüber ich froh bin. Sehr.)

Aber es wird immer schwieriger, miteinander zu sprechen. Natürlich besonders dort, wo wir auf Haltungen treffen, die offener Diskussion und sachlichen Argumenten gar nicht zugänglich scheinen. Manchmal aber lese ich jenseits der gut gemeinten Aufrufe auch anderes, von beißendem Spott bis hin zu Beschimpfungen. Und das Problem sehe ich auch hier: Es gibt da weiterhin Menschen, die wir mit Sachlichkeit und inhaltlicher Aufklärung noch erreichen könnten. Sicher nicht alle. Sicher nicht immer. Doch es gibt sie. Nur machen wir es ihnen nicht immer einfach, unsere Position anzunehmen und ihre eigene zu überdenken.

Miteinander sprechen statt übereinander – aber geht das?

Will man es solchen Leuten denn leichtmachen, könnte man jetzt sagen. Reicht es nicht, eine Position zu vertreten, die man für richtig hält?
Vielleicht. Wir müssen alle selbst entscheiden, was uns genügt und was wir für richtig halten. Ich denke nur an eigene Erfahrungen: Ich habe Diskussionen geführt (allgemein und nicht nur auf Politik bezogen), bei denen ich mit meinem Gegenüber weitgehend einer Meinung war. Nur dessen Auftreten, wie ich es (gerade im Schriftlichen!) wahrnahm, reizte mich trotzdem zum Widerspruch. Wie mag sich das dann erst bei echten Meinungsverschiedenheiten anfühlen?

Wenn der Anspruch ist, andere zum Nachdenken anzuregen und nachhaltig von etwas zu überzeugen, braucht es nach meiner Erfahrung mehr als das Beharren auf dem eigenen Standpunkt. Es braucht auch Inhalte und Argumente. Und die Bereitschaft, dem anderen die Mündigkeit zur eigenen Entscheidung einzuräumen und ihm genau dadurch zu ermöglichen, die eigene Position zu verändern.

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Und ja, das ist schwer. Das widerstrebt im Umgang mit bestimmten Positionen sehr. Ich behaupte nicht, dass ich es selbst kann. Oder dass es immer funktioniert. Oder der einzig richtige Weg ist. Das ganz sicher nicht. Denn es ist ja gerade der irrige Wunsch, auf komplexe Probleme einfache Lösungen anzubieten, der zur Zeit in so viele Sackgassen führt.
Es geht mir auch nicht darum, nicht zur Wahl aufzurufen oder nicht vor bestimmten politischen Positionen zu warnen. Doch. Wir brauchen das alles, die Aufrufe, die Warnungen, das Bewusstsein. Aber wir brauchen eben auch noch mehr als das, und wir müssen ehrlich mit uns und unseren Aufrufen sein, uns bewusst machen, wen wir womit erreichen können (und wollen). Nicht nur jetzt in den letzten Tagen – und Stunden – vor der Wahl, sondern ganz besonders in der Zeit danach.

Im vergangenen Jahr hatte ich das erste Mal echte Angst vor einem Wahlergebnis. In jenem Fall war das die Bundespräsidentenwahl in Österreich. Ja, das betraf und betrifft mich. Ich habe neben der deutschen auch die österreichische Staatsangehörigkeit, darf in beiden Ländern wählen (und werde genau das in diesem Herbst tun). Vielleicht treibt mich das heutige Thema auch deshalb so um, weil ich dadurch bestimmte Debatten und Diskurse gleichsam doppelt mitbekomme.
Ganz gleich, wie die Wahl ausgeht, der Dinosaurier wird noch immer da sein. Genau das ist es, wovor ich Angst habe: Das, was die Geschichte nicht mehr erzählt – wie es nach jenem Erwachen weitergeht.

Diese Website verwendet Cookies. Sie können die Verwendung von Cookies in Ihrem Browser deaktivieren. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen