In meinem Auslandssemester lernte ich, dass die Zukunft hinter uns liegt.

Zumindest tut sie das in der Weltsicht derer, die Aymara sprechen – auf den Hochebenen Südperus und Boliviens.

»Wenn ein Aymara über morgen redet, dann zeigt er dabei oft hinter sich«, erklärte Félix Palacios, einer meiner Dozenten an der Universität von Arequipa. »In unserer Vorstellung liegt hinter uns unsere Vergangenheit, das, was wir schon erlebt haben. Im Weltbild der Aymara liegt die Vergangenheit aber vor uns: Schließlich können wir sie sehen. Hinter uns ist die Zukunft, das, was wir noch nicht erkennen können.«

Ich erinnere mich gut an diesen schummrigen Vorlesungsraum im obersten Stock des Fakultätsgebäudes, an Palacios’ lebhaftes Gestikulieren und vor allem daran, wie begeistert ich mitschrieb. »Andine Ethnologie« hieß der Kurs. Jede Sitzung rief mir ins Gedächtnis, warum ich zwei Jahre zuvor entschieden hatte, mich für Kulturanthropologie einzuschreiben: Weil mir der Blick auf die Studieninhalte das diffuse Versprechen vermittelte, dass ich die Welt danach ein bisschen besser verstehen würde.

Kulturanthropologie: Eine Lamahüterin am richtigen Ort

Und tatsächlich hatte ich vom ersten Semester an das Gefühl, in diesem Studium genau richtig zu sein, auch wenn unser Jahrgang sämtliche Kinderkrankheiten des frisch eingeführten Bachelorsystems durchmachen musste und die ersten Vorlesungen mangels alternativer Räume im tisch- und fensterlosen Keller des Ethnologischen Museums stattfanden. Als ich mehrere Semester später die Geschichte von der Zukunft hinter uns hörte, hatte ich eines bereits verinnerlicht: Wir neigen dazu, unseren Blick auf die Welt als vollkommen logisch und naturgegeben wahrzunehmen – und entsprechend als allgemeingültig. Doch so gut wie immer lässt sich dieser Blick hinterfragen. So gut wie immer gibt es noch eine andere Geschichte. Einen anderen Blickwinkel.

Was hat das auf meinem Blog zu suchen?

Vielleicht hätte ich es längst sehen müssen, wo die Vergangenheit doch bis zum Horizont sichtbar vor uns liegt. Aber manches ist womöglich einfach zu weit entfernt. Wie jener Punkt, an dem ich damals mit dem Bloggen angefangen habe. Das passierte nämlich eher zufällig: Als ich 2006 in den Semesterferien zum ersten Mal nach Peru flog, schlug mir ein Freund vor, die Daheimgebliebenen statt mit Rundmails mit einem Blog auf dem Laufenden zu halten. Sein Bruder richtete mir diesen ersten Blog ein und betreute ihn in den ersten Jahren. sabrinarequipa war geboren, ein unfassbar innovatives Wortspiel aus meinem Namen und meiner angehenden Herzenszweitheimat Arequipa.

Von sabrinarequipa zur Lamahüterin

Den Namen behielt ich auch bei, als ich ein paar Jahre später auf eine eigene Domain umzog. (Zweifel an seiner Genialität kamen mir erst, als ich bei einer Lesung unter dem vermeintlichen Pseudonym Sabrina Requipa angekündigt wurde.) Der Domainumzug jedenfalls fiel in die Zeit, in der ich anfing, wieder regelmäßig zu schreiben und mich an meinen ersten Roman wagte.

Mein Blog allerdings blieb in der Hauptsache meinen Reiseberichten aus Südamerika verpflichtet, Neuigkeiten aus Peru und ethnologischen Gedankengängen. Wieder ein paar Jahre später trennte ich das Ganze, Zielgruppen und so. Und schließlich hörte ich aus Zeitgründen ganz auf, sabrinarequipa zu füttern, und bloggte stattdessen nur noch hier: Schreib- und Autorenthemen, Anekdoten aus meiner Selbständigkeit und mein Bullet Journal. Lateinamerika war vollkommen aus meinen Blogthemen verschwunden – und die Kulturanthropologie auch. Dabei fand beides in meinem Realleben weiterhin sehr prominent statt, wie etwa in diesem Rückblick auf meinen genialen Masterplan zu lesen ist.

Meine große Sinnkrise 2017 brachte mich dazu, über vieles in meinem Leben grundlegend nachzudenken. Dabei ging mir unter anderem auf, dass mir mein alter Blog ebenso fehlte wie die Beschäftigung mit Lateinamerika und Themen, die ich aus meinem Studium kannte: Impulse rund um die Frage, wie man die Welt sehen und denken kann. Ich beschloss, ein neues Blogprojekt zu starten, das sich genau diesen Dingen wieder widmen sollte – die Lamahüterin.

Zurück in die Zukunft (oder: Wie ich noch schnell eine geekige Zwischenüberschrift in den Blog schmuggelte)

Ein Gedanke hinter diesem Entschluss war auch, dass ich bei Diskussionen im Netz immer wieder das Gefühl hatte: »Das ist jetzt aber sehr eurozentrisch gedacht«, »Ich glaube, dazu hatte mir eine Freundin in Peru doch mal einen spannenden Aufsatz empfohlen« oder »Ich glaube, dazu könnte ich mehr sagen, wenn ich dieses Seminar von damals noch genauer im Kopf hätte«. Immer wieder stolperte ich darüber, dass mir bestimmte Perspektiven und Impulse fehlten, dass ich mich vage erinnerte, dass es da Theorien und Texte gibt, auf die hinzuweisen gut gewesen wäre (oder mit denen ich mich längst mal wieder beschäftigt haben wollte).

Ganz klar, der neue Blog musste her: wissenschaftlich fundiert, aber für alle zugänglich und ohne den akademischen Dünkel, dass nur ein Text voller Fremdwörter ein guter Text ist.
Nebenher strickte ich fleißig am Redaktionsplan meines Autorenblogs. So fleißig, dass ich irgendwann nur noch strickte und nicht bloggte. Das Konzept für die Lamahüterin warf ich immer wieder um und ging doch nie wirklich an die Arbeit. Bis eines Tages …

Die Regeln des Geschichtenerzählens würden es erfordern, an dieser Stelle von einem einschneidenden Erlebnis zu berichten, das folgerichtig zu meiner Erleuchtung führte. Leider muss ich mich hier als lausige Geschichtenerzählerin zeigen, denn rückblickend habe ich keine Ahnung mehr, was eigentlich den Ausschlag gab. Aber eines Tages saß ich über meinen Blogplänen – den Herzklopfthemen für die Lamahüterin und der freundlichen Beliebigkeit für meinen Autorenblog – und begriff: Ich muss das gar nicht trennen. Ich muss Lateinamerika gar nicht aus meinem Autorenblog raushalten. Warum auch, wenn es das ist, was meine Geschichten prägt und ausmacht? Meine vor mir liegende Vergangenheit muss ganz schön bewölkt gewesen sein, wenn ich das nicht früher gesehen habe.

Von Lamas und anderen Dämonen

Mein ganzes Studium – ein Bachelor und zwei Master – haben mich zu spannenden Geschichten und Ansätzen geführt, wie man die Welt anders denken kann. Meine Reisen durch Südamerika haben mir zur Theorie eine wahre Schatzkiste an Praxis beschert. Es gibt so viel zu erzählen, kennenzulernen und wiederzuentdecken, auch für mich. Und es gibt keinen Grund, das anderswo als hier zu tun.

Was erwartet euch also künftig hier?

Die Idee: Ich stelle euch Gedanken und Geschichten vor, die mich bewegen und nachdenklich machen. Konzepte und Debatten, die meine Weltsicht herausfordern oder herausgefordert haben, die an anderer Stelle vielleicht nicht oder selten erzählt werden. Ich stelle euch Bücher, Projekte und mehr vor, die dazu anregen, über unseren Tellerrand hinauszuschauen.

Alle zwei Wochen wird es einen neuen Blogbeitrag geben. In der Vergangenheit bin ich nie über das erste Quartal eines Jahres hinausgekommen beim Bloggen. Dem schlage ich jetzt ein Schnippchen, indem ich überhaupt erst im zweiten Quartal anfange – ganz schön gewieft, nicht wahr?

Wird das alles funktionieren? Das kann ich nicht wissen – schließlich liegt das alles noch unsichtbar hinter mir. Aber ich werde es herausfinden und mache jetzt mit offenen Augen den ersten Schritt zurück in meine Zukunft. Kommt ihr mit?

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