»Erst schreiben, dann überarbeiten!« Dieses Mantra begegnet mir ständig. Das Schreiben läuft zäh? Durchbeißen, den Roman zu einem Ende bringen. Verbessern kann man am Ende immer noch. Das klingt sinnvoll, um nicht plötzlich in einer endlosen Korrekturschleife festzuhängen, über die man das Schreiben aus den Augen verliert. Aber taugt es zur goldenen Regel?

Wer immer wieder aufribbelt, was er tagsüber an Worten gewebt hat, wird nie fertig. Das haben wir schon aus den griechischen Sagen gelernt: Während Penelope auf die Heimkehr ihres Mannes Odysseus wartet, vertröstet sie die Schar angerückter Freier damit, dass sie erst ein Totentuch fertigweben muss. Weil Penelope überhaupt kein Interesse daran hat, sich einen neuen Gatten auszusuchen, ist es von ihrer Seite volle Absicht, das Gewebe nie fertigzustellen. Wer beim Schreiben immer wieder zwanghaft überarbeitet und verbessert, anstatt den Roman voranzubringen, kann hingegen schnell zu einer unfreiwilligen Penelope werden.

Beim Schreiben überarbeiten: Das kann blockieren

Vor diesem Hintergrund ist es ein sinnvoller Ratschlag, den inneren Lektor auf eine möglichst abgelegene Mittelmeerinsel zu verbannen und dafür zu sorgen, dass er für den Rückweg mindestens so lange braucht wie Odysseus. Weiterschreiben, nicht auf der Stelle treten. Es gibt viele Gründe dafür: Mitten im Schreibprozess fehlt oft noch die nötige Distanz, um wirklich klar zu sehen, was geändert und verbessert werden muss. Und irgendwann geht es vielleicht gar nicht mehr ums Überarbeiten, sondern darum, sich vor dem Weiterschreiben zu drücken. Denn schließlich könnte man das Buch dabei in den Sand setzen, nicht wahr? Also lieber noch ein bisschen glattschleifen. Die letzten drei Kapitel noch mal auftrennen und die Plotfäden neu knüpfen. Eines Tages wird das Buch fertig (und an jenem Tag holen wir den inneren Lektor Odysseus wahrscheinlich vom BER ab).

Aber es gibt noch eine Kehrseite der Medaille. Die gibt es beim Schreiben eigentlich immer. Das ist auch das Gemeine an diesem Handwerk: Im Hinblick auf den Schreibprozess gibt es keine goldenen Regeln. »Erst schreiben, dann überarbeiten« ist eine sinnvolle Hilfestellung. Manchmal stolpere ich aber darüber, dass es wie ein ehernes Gesetz vorgebracht wird – um Himmels willen, sieh auf gar keinen Fall zurück, während du noch schreibst, die Medusa der Prokrastination wird dich versteinern, das Buch kann dann gar nicht mehr fertigwerden. Beiß dich durch (durch den Text, nicht durch die Medusa).

Probleme beim Schreiben haben meistens einen Grund

Wenn das aber zum kompromisslosen Grundsatz erhoben wird, lässt es eine Sache außer acht: Wenn es beim Schreiben so sehr hakt, dass Durchbeißen gefragt ist, dann kann das auch Gründe haben. Wenn es in meinen Geschichten passiert, ist es so gut wie immer Reaktion auf etwas. Mit anderen Worten – wenn Sand im Getriebe ist, dann knirscht es eben. Und Durchbeißen hilft in diesem Fall nicht immer. Denn sehr wahrscheinlich knirscht es weiterhin. Der Sand ist schließlich noch immer da. Stur weiterzuschreiben führt mich dann in der Regel schnurstracks in die nächste Sackgasse. Oder auch: Unterwegs im Labyrinth des Minotaurus, und der Ariadne-Faden ist plötzlich zu kurz.

Durchbeißen und weiterschreiben kann daher auch heißen, die Signale zu ignorieren, die eine verknotete Geschichte uns sendet. Unserem eigenen Bauchgefühl nicht zu vertrauen. Und das kann problematisch sein. Ich habe das Durchbeißen mittlerweile aufgegeben – das bringt nur Zahnschmerzen. Stattdessen taste ich mich am roten Faden entlang zurück durchs Plotlabyrinth und suche den Knoten. Irgendeiner ist da immer. Geschichten neigen zwar durchaus zur Boshaftigkeit (»Hallo, Autor! Ich weiß, es ist zwei Uhr nachts, aber wie wäre es, wenn ich dich jetzt mit sieben genialen Plottwists bombardiere, die du morgen früh garantiert vergessen hast? HÄHÄ!«), störrisch geben sie sich aber in der Regel nicht ohne Grund.

Beim Schreiben überarbeiten? Kann das gutgehen?

Ist der Knoten gefunden, stellt sich natürlich wieder die Frage: Alles wieder auftrennen oder einfach weiterschreiben? Wir wollen ja auch irgendwann den verdammten Minotaurus finden und aus dem blöden Labyrinth raus. Zur Not auch ohne Faden.
Manchmal – das heißt: manchen Geschichten und manchen Autoren – reicht es, sich eine Notiz zu machen, vielleicht sogar nur geistig: X und Y am Plot ändern. Wenn im Kopf klar ist, wo das Problem lag und wie es gelöst wird, kann das schon genügen, um freie Bahn zum Weiterschreiben zu haben.

Und manchmal wiederum braucht es eben mehr als das. Manchmal ruiniert es das gesamte verbleibende Webmuster, wenn die bisherigen Knoten nicht zuerst entfernt werden. Denn es kann durchaus sein, dass sich nach dem Glätten der Fäden ein völlig neues Bild ergibt. Wer vorher weiterschreibt, tappt nicht nur ohne Faden durchs Labyrinth, sondern auch ohne Fackel. Man kommt dann vielleicht langsam voran, aber man läuft ständig gegen Wände, und das Schreiben wird zur Qual. Mir ist das gerade erst wieder passiert. Da war es auch Faulheit, dass ich nicht den halben Plot wieder auftrennen und den Knoten auf den Grund gehen wollte. Ich wollte fertig werden. Keinen Bock, im Labyrinth noch Staub zu wischen.

Beim Schreiben auch dem Bauchgefühl vertrauen

»Durchbeißen«, sagte ich mir also, »erst schreiben, dann überarbeiten.« Das war eine Katastrophe. Ich schrieb zwar Kapitel um Kapitel – aber ständig weigerten sich die Figuren, die Dinge aus logischen Gründen zu tun, und rollten bei jeder Regieanweisung mit den Augen. Mir fehlten noch zwei Kapitel bis zum Romanende, als ich es schließlich aufgab, im ganzen bisherigen Roman nach Knoten forschte und das Geschriebene dann rigoros wieder auftrennte. Jetzt streiche ich die Fäden glatt und bessere aus, bevor ich neu webe. Auf den ersten Blick bremst mich das aus. Auf den zweiten ist es dringend nötig, damit ich heil durchs Labyrinth komme. Penelope wird sich die Haare raufen – aber diesmal wird das Buch fertig.

Erst überarbeiten, dann weiterschreiben: In diesem Fall war das für mich genau die richtige Entscheidung. Nicht, weil der umgekehrte Wahlspruch nichts taugt – er taugt einiges. Aber wie alle Wahlsprüche sollte man ihn nicht blindlings über das eigene Bauchgefühl klatschen. Schreiben ist Handwerk, aber auch Intuition. Übt beides. Die Geschichten danken es einem.

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